Wie engagiert Mitarbeiter sind, hängt stark davon ab, inwieweit sie ihr Tun als sinnvoll erfahren. Doch die Sinnhaftigkeit ihres Tuns ist für viele Mitarbeiter in der modernen Arbeitswelt oft nur noch schwer erfahrbar. Deshalb wird es zunehmend eine Führungsaufgabe, Sinn zu vermitteln und zu stiften.
Das Wort „Sinn“ hat seine Wurzeln im althochdeutschen Wort „sinan“, das so viel wie reisen, streben, trachten bedeutet. Doch wonach streben Menschen? Wohin wollen sie reisen? Wonach trachten sie? Studien belegen: Fast alle Menschen wollen Teil einer Gemeinschaft sein. Und wenn sie jemandem helfen, also etwas über ihren persönlichen Rahmen hinaus gehendes tun? Dann stellt sich bei ihnen ein Gefühl von Erfüllung, Zufriedenheit und Sinn ein.
Dieses Gefühl vermissen heute viele Mitarbeiter von (Groß-)Unternehmen bei ihrer Arbeit. Deshalb empfinden sie diese zunehmend als belastend. Das heißt: Statt (neue) Herausforderungen – getragen von einem positiven Eu-Stress – beschwingt und voller Zuversicht anzugehen, bewegen sie sich in einer demotivierenden Di-Stress-Spirale, die auf Dauer zu einer inneren Kündigung oder einem Burn-out führt. Deshalb stellt sich die Frage: Sollten sich Unternehmen und ihre Führungskräfte mit der Sinnfrage befassen, oder ist die Frage nach dem Sinn im Business-Kontext Unsinn?
Sinn ist im Betriebsalltag oft schwer erfahrbar
Vielen Unternehmen geht es heute wie den Banken. Ihr Markt wird aufgrund der Globalisierung immer härter und komplexer und ihre Rahmenbedingungen ändern sich immer schneller. Also müssen sie sich immer wieder neu definieren und ihre Strategien neu justieren. Das ist eine schwierige Managementaufgabe – auch weil oft unvorhergesehene Ereignisse die Planungen torpedieren. Deshalb nehmen die Mitarbeiter das Managementhandeln häufig nur noch als Schlingerkurs wahr, während sie zugleich das Damoklesschwert „Ertragssteigerung und/oder Entlassung“ über sich spüren. Und weil sie sich nicht selten nicht ausreichend informiert und als Person und Arbeitskraft gewertschätzt fühlen, verlieren sie den Glauben an die Sinnhaftigkeit ihres Tuns.
Besonders ausprägt ist dieses Phänomen in Unternehmen und Branchen, in denen die Mitarbeiter, zuweilen begründet, einen Wertefall bei ihren Arbeitgebern spüren – wie zum Beispiel bei vielen Banken. Früher waren sie ein Sinnbild für ehrenhaftes Verhalten. Entsprechend stolz waren ihre Mitarbeiter, für sie zu arbeiten. Heute hingegen stehen dieselben Unternehmen nicht selten gesellschaftlich am Pranger – zum Beispiel, weil sie vermögende Kunden systematisch beim Steuerbetrug unterstützten oder gar kriminelle Handlungen begingen, wie den Libor und Euribor zu manipulieren, und so der Allgemeinheit schadeten.
Immaterielle Werte schaffen materielle Werte
Dieser vermeintliche oder reale Werteverfall wirkt auf die Mitarbeiter zurück. Sie fragen sich zunehmend: Was ist der Sinn meiner Arbeit? Kann er ausschließlich darin bestehen, die Umsatzrendite meines Arbeitgebers zu steigern und die Vermögen irgendwelcher, ohnehin schon gut betuchter Kapitalgeber zu mehren? Verschafft mir das auf Dauer Erfüllung und Befriedigung? Nicht, selten lautet die (unausgesprochene) Antwort: nein. Mit der Folge, dass sich die Mitarbeiter nur noch bedingt für ihren Arbeitgeber engagieren, weil sie sich nur noch eingeschränkt mit dessen Zielen und Handlungen identifizieren und hinter all ihrem Tun die nicht oder negativ beantwortete Sinnfrage steht.
Deshalb sollten sich Unternehmen intensiv mit dem Thema Sinn, sprich Werte, befassen. Denn die Antworten auf diese Frage beeinflussen die Unternehmenskultur und somit die Zufriedenheit und Motivation der Mitarbeiter. Und diese Faktoren wirken sich wiederum auf die Produktivität und somit Rendite aus. Oder anders formuliert: Die immateriellen Werte schaffen materielle Werte – durch ihre Strahlkraft nach innen und Wirkung nach außen.
Doch können Unternehmen und ihre Führungskräfte im Betriebsalltag überhaupt sinnstiftend wirken? Fünf Thesen hierzu.
These 1: Das Streben nach Sinn ist in uns Menschen verankert.
Der österreichische Psychiater Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie (griech. Logos: Sinn, Gehalt), betrachtet das Streben nach Sinn im Leben und Tun als primäre Motivationskraft der Menschen. Frankls Logotherapie basiert auf drei Annahmen.
- Freiheit des menschlichen Willens: Der Mensch hat einen freien Willen, und jeder Mensch ist frei, seine innere Haltung, zu dem, was in seiner Umwelt geschieht, zu wählen. Diese Annahme fußt auf Frankls Erlebnissen in einem NS-Konzentrationslager, in dem er aller äußeren Freiheiten beraubt war. Was ihm blieb, war seine innere Freiheit, seine Einstellung und Haltung gegenüber den äußeren Gegebenheiten selbst zu wählen – was letztlich sein Überleben ermöglichte.
- Der Sinn im Leben beruht auf dauerhaften Werten und diese kann jedes Individuum finden. Ein sinnvolles Leben erwächst laut Frankl aus sinnvollen Momenten. Solche Momente können unter anderem daraus resultieren, dass wir
- etwas Nützliches für andere Menschen/die Gesellschaft tun,
- Freude an unseren zwischenmenschlichen Beziehungen haben und/oder
- in einem Umfeld arbeiten, welches wir als sinnstiftend erfahren.
- Der Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun, ist dem Menschen angeboren und gründet auf einer universellen Ethik. Nur wenn wir im Einklang mit unserem Gewissen und den Werten handeln, die wir aufgrund unseres Welt- und Selbstbilds als gerecht empfinden, erfahren wir unser Tun als sinnvoll.
These 2: Eine extrinsische Dauermotivation ist sinnlos.
Wenn das Streben nach Sinn, die primäre Motivationskraft von Menschen ist, dann bringt eine permanente Top-down-Motivation der Mitarbeiter durch ihre Führungskräfte wenig. Trotzdem ist sie in den Unternehmen gängige Praxis. Denn viele Manager haben den Glaubenssatz verinnerlicht: Ich muss meine Mitarbeiter regelmäßig neu motivieren, damit sie die gewünschte Leistung bringen.
Eine solche extrinsische Motivation, etwas (nicht) zu tun, hilft manchen Menschen, persönliche Hürden und Herausforderungen zu meistern. Sie geht jedoch davon aus, dass die Mitarbeiter ihre Arbeit grundsätzlich als Last empfinden; außerdem davon, dass bei ihnen ein nicht behebbares Motivationsdefizit besteht, weshalb sie dauerhaft einer Motivation von außen bedürfen. Deshalb entwickeln viele Unternehmen stets neue und immer aufwändigere Anreizsysteme, deren Wirkung meist rasch verpufft. Denn solche Systeme beantworten die Sinnfrage nicht. Zielführender wäre es, sich als Führungskraft zu fragen: Wie kann ich die intrinsische Motivation, also die Eigenmotivation der Mitarbeiter stärken? Und hierbei spielt die Sinnfrage eine zentrale Rolle.
These 3: Führen ohne Sinn ist sinnlos.
Führung im Business-Kontext muss den wirtschaftlichen Erfolg anvisieren. Wer hierbei jedoch den Mensch Mitarbeiter vergisst, vernachlässigt eine wertvolle Ressource für die Zielerreichung. Führen bedeutet stets auch, Menschen mitzunehmen und ihnen Orientierung zu geben – und zwar indem man für sie begreifbar und erfahrbar macht, welchen Beitrag sie zu einem größeren Ganzen leisten.
Laut Frankl geht es beim Sinnerleben unter anderem um vorhersagbare Erfahrungen und darum, als wie folgerichtig und bedeutungsvoll man die Welt erlebt. Was bedeutet das für den Führungsalltag? Für viele Menschen sind unvorhergesehene Erfahrungen belastend und irritierend. Speziell in Veränderungsprojekten verlieren Mitarbeiter mangels offizieller Informationen oft die Orientierung. Irritation und Unsicherheit entstehen, und die Frage taucht auf: „Was soll das Ganze?“ Finden oder erhalten die Mitarbeiter hierauf keine befriedigende Antwort, sinken ihre Motivation und Arbeitsmoral.
Eine sinnstiftende Führung bezieht die Mitarbeiter ein. Sie versucht durch Information und eine frühe Diskussion zum Beispiel über den Sinn geplanter Änderungen, den Blick der Mitarbeiter auf das große Ganze zu richten. Das heißt: Sie nennt den Mitarbeitern nicht nur die unternehmerischen Ziele wie „Wir wollen Marktführer werden“ oder „… eine Umsatzrendite von 15 Prozent erzielen“. Denn sie allein sind nicht sinnstiftend. Sinn entsteht erst, wenn die Mitarbeiter erkennen, inwieweit das Erreichen der Ziele den Unternehmenszweck unterstützt – also einen Beitrag zum Wohl eines größeren Ganzen leistet.
These 4: Werte können nicht gelehrt, sondern nur gelebt werden.
In vielen Unternehmen definiert das Management die Unternehmenswerte. Und anschließend werden diese Werte in Trainings den Mitarbeitern vermittelt. Ein solches Top-down-Verordnen von Werten funktioniert nicht. Die gemeinsamen Werte müssen in einem Prozess top-down und bottom-up – also im Gegenstromverfahren – entwickelt werden, damit sie von den Mitarbeitern getragen und gelebt werden. Und entscheidend ist dabei die Frage: „Woran erkennt unsere Umwelt, dass wir die Werte leben, und woran lassen wir uns hierbei messen?“
Der Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory) der beiden US-amerikanischen Psychologen Richard M. Ryan und Edward L. Deci zufolge, gibt es drei menschliche Grundmotive, die zu einer intrinsischen Motivation einer Person führen, so dass diese Handlungen aus sich selbst heraus und um ihrer selbst willen ausgeführt.
- Autonomie: Menschen wollen etwas eigenständig gestalten. Wenn Führungskräfte ihre Mitarbeiter in deren Autonomiebestreben fördern, so dass sie einen eigenen Beitrag beispielsweise zum Erfolg des Unternehmens oder der Abteilung leisten können, dann stellt sich bei ihnen das Gefühl von Sinn ein.
- Selbstwirksamkeit: Menschen möchten, dass das, was sie autonom tun, wahrgenommen wird. Sie wollen eine Rückmeldung ihrer Umwelt, ein Feedback. Und das nicht nur bezogen auf „gut/schlecht“, sondern auch bezüglich des Werts, den sie und ihr Tun für das große Ganze haben.
- Beziehung: Menschen streben nach innigen Beziehungen. Erst wenn sie sich im Kontakt mit anderen gesehen und wertgeschätzt fühlen, kann persönliches Wachstum entstehen.
These 5: Menschen wollen „Spuren“ hinterlassen.
Etwas für das größere Ganze zu tun, unterstützt wie bereits erwähnt, die Sinnfindung. Dieses größere Ganze kann im Business-Kontext die eigene Abteilung oder Firma sein. Hierbei kann es sich aber auch um die Kunden oder die Gesellschaft handeln.
Menschen wollen mit ihrer Arbeit Spuren hinterlassen – also eine Art Vermächtnis haben. Deshalb kann im Dialog Führungskraft-Mitarbeiter die Frage „Was wollen wir als unser Vermächtnis (im Unternehmen, in der Gesellschaft) hinterlassen?“ sehr zielführend sein. Denn Menschen, die wissen, was ihr Vermächtnis sein soll, erleben ihr Tun meist als sinnvoll. Ihre intrinsische Motivation ist angesprungen.
Fazit:
Auch aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen sollten sich Unternehmen mit dem Thema Sinn befassen, denn generationenübergreifend, sehnen sich die Menschen nach einer Arbeit, die sie als sinnvoll erfahren – und diese Erfahrung können die Mitarbeiter, in einem von permanentem Wandel geprägten Umfeld ohne Unterstützung immer schwieriger sammeln. Deshalb wird es eine Führungsaufgabe, diese Erfahrung durch eine sinnstiftende Führung den Mitarbeitern wieder zu ermöglichen und so dass deren intrinsische Motivation steigt.
Albert Einstein sagte einmal: „Wer sein Leben als sinnlos empfindet, ist nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig.“ Wenn dieser Satz auch für soziale Systeme wie Unternehmen gilt, dann hängt ihr Überleben auch davon ab, inwieweit in ihrem Handeln eine Werte- und Sinnorientierung spürbar ist – für ihre Mitarbeiter und ihre Umwelt. Auch deshalb sollte Führung die Sinn- und Wertefrage thematisieren.
Über den Autor:
Uwe Reusche ist einer der beiden Geschäftsführer des ifsm Institut für Sales- und Managementberatung, Urbar bei Koblenz.