Mit der Wissensgesellschaft wächst der weltweite Bedarf an Akademikern und gut ausgebildeten Fachkräften. Die steigende Nachfrage nach Hochschulbildung und die wachsende weltweite wirtschaftliche Konkurrenz setzen die Regierungen unter enormen Druck und führen dazu, dass sich die Bildungssysteme auf der ganzen Welt mit hoher Geschwindigkeit verändern. Dazu zählen die Expansion bestehender Einrichtungen und ein teilweise flutartiges Anwachsen von Neugründungen. Dieser Boom hat zu nationalen Bildungssystemen geführt, die heterogen und in sich vielfältig sind. Es fehlen dabei langfristige Strategien und ein stimmiger Aufbau. Das ist ein Ergebnis der von der Körber-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie »Responding to Massification: Differentiation in Postsecondary Education Worldwide« des Boston Colleges.
Die Studie bereitet das zweite »Hamburg Transnational University Leaders Council« vor, bei dem Hochschulpräsidentinnen und -präsidenten aus der ganzen Welt vom 7. bis 9. Juni 2017 in Hamburg über die Differenzierung der Hochschulsysteme diskutieren. Sie analysiert die Trends der Hochschul- und Berufsbildungssysteme in 13 Ländern, neben Deutschland Frankreich, Großbritannien und Russland, Ägypten und Ghana, Australien, China, Indien und Japan, Brasilien, Chile sowie die USA. Zur Veröffentlichung der Studie kamen gestern Expertinnen und Experten aus Ministerien, Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen in Berlin zusammen, um die Ergebnisse aus deutscher Sicht zu bewerten und zentrale Herausforderungen und mögliche Handlungsoptionen für Deutschland zu benennen.
Philip G. Altbach vom Boston College, der die Studie geleitet hat, nennt die aktuelle Situation der postsekundaren Bildung eine »Phase der Anarchie«: »Wir haben in allen untersuchten Ländern ein breites Spektrum an Bildungseinrichtungen vorgefunden, aber kein differenziertes System von Institutionen mit klar definierten Aufgaben und Zielsetzungen.« Die Studie zeigt, dass die Bildungspolitik aller untersuchten Länder vor vergleichbaren Herausforderungen steht. Altbach: »Der Weg in die Zukunft besteht darin, die Anarchie in ein kohärentes, integriertes System postsekundarer Bildungseinrichtungen guter Qualität zu überführen.«
Die Trends laut Studie im Überblick:
Anhaltender Akademisierungstrend
War der Zugang zu Hochschulbildung früher Privileg einer sozialen Elite, studiert heute in vielen Ländern über die Hälfte eines Jahrgangs. Auch Schwellenländer wie China oder Indien bauen ihre Bildungssysteme seit Jahrzehnten aus und streben vergleichbare Quoten an. So sind in Indien heute über 35 Millionen Studierende immatrikuliert, dies entspricht aber erst etwa einem Viertel der 18- bis 24-Jährigen des Landes. Der Zustrom in die postsekundaren Bildungssysteme hält global an. In Deutschland ist eine umfassende Partizipation erreicht. Der Akademisierungstrend setzt sich aber auch hier fort.
Zunehmende Diversität der Lernenden
Die postsekundaren Bildungssysteme müssen nicht nur auf einen wachsenden Zulauf, sondern auch auf eine zunehmende Diversität der Lernenden reagieren, die unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und Erwartungen mitbringen. »Das traditionelle Universitätsmodell mit seiner stark wissenschaftlichen Ausrichtung erfüllt inzwischen nur noch die Bedürfnisse eines kleinen Teils der heutigen Studierenden«, sagt Altbach. Viele Länder der Studie haben daher Alternativen geschaffen, die spezifischen Anforderungen des Arbeitsmarktes nachkommen sollen und sich an Menschen richten, die nicht den Wunsch oder die Voraussetzungen zur Aufnahme eines wissenschaftlichen Studiums mitbringen. Diese Programme können sich jedoch als Sackgasse erweisen: Denn Anschlussmöglichkeit im akademischen System bestehen oft nicht.
Boomender Privatsektor
Global gibt es einen Trend hin zu immer mehr privaten, gewinnorientierten Hochschulen sowie zu einer zunehmenden Privatisierung öffentlicher Hochschulen – bei steigenden Studiengebühren. Die Zuwächse sind unterschiedlich groß, doch in allen 13 untersuchten Ländern wächst der private Hochschulsektor. Auch in Deutschland wächst der private Sektor, erreicht aber nur einen kleinen Teil der Studierenden. Er boomt vor allem in den Ländern, in denen es nicht gelingt, die Nachfrage durch öffentliche Hochschulen und andere staatliche Bildungseinrichtungen zu decken. Private Anbieter füllen die Lücken schnell. Die Qualität und der Nutzen ihrer Angebote variieren dabei stark. Eine Folge dieser Entwicklung: Der Einfluss des Staates schwindet. »In den meisten Fällen haben sich die Regierungen von einer Politik, die auf die Steuerung der Immatrikulationen und der Bildungschancen ausgelegt war, wieder verabschiedet und Marktkräften und internationalen Trends nachgegeben«, sagt Altbach.
Etablierung von global wettbewerbsfähigen Spitzenuniversitäten
Die meisten der untersuchten Länder bemühen sich, einen Elitesektor forschungsstarker Universitäten zu schaffen, die international konkurrenzfähig sind und in den weltweiten Rankings ihren Platz finden. Exzellenzinitiativen bieten Universitäten, die den Weltklassestatus anstreben, nicht nur in Deutschland zusätzliche Finanzierung, sondern auch in Frankreich, Japan, Russland und China. Das Problem: Die Rolle dieser Spitzeninstitutionen innerhalb der nationalen Bildungssysteme ist nicht klar definiert. »Dies ist jedoch unverzichtbar, wenn der postsekundare Bildungssektor als ein stimmiges System von Programmen und Instituten funktionieren soll, das die Anforderungen des Einzelnen und des Arbeitsmarkts passgenau erfüllt«, so Philip G. Altbach.
Über die Studie
Die Studie »Responding to Massification: Differentiation in Postsecondary Education Worldwide« wurde vom Center for International Higher Education des Boston College unter der wissenschaftlichen Leitung von Professor Philip G. Altbach durchgeführt. Im Auftrag der Körber-Stiftung analysiert die Studie die Realitäten, Dynamiken und Trends postsekundarer Bildungssysteme in 13 Ländern.
Die Studie bereitet das im Juni 2017 stattfindende »Hamburg Transnational University Leaders Council« vor, eine Plattform für den Austausch über die weltweite Hochschulentwicklung, die Anstöße für deren strategische Gestaltung liefern soll. Das Council ist eine gemeinsame Initiative von Hochschulrektorenkonferenz, Körber-Stiftung und Universität Hamburg.
Quelle: HRK