Agile Führung – so lautet ein Buzzword in der aktuellen Managementdiskussion. Das klingt gut! Doch eine agile Führung, die weitgehend auf eine Selbstorganisation der Mitarbeiter setzt, setzt einen gewissen Reifegrad der Mitarbeiter und Führungskräfte voraus.
Den idealen Führungsstil gibt es nicht. So lautete bereits 1968 die zentrale Botschaft von Ken Blanchard und Paul Hersey, den Entwicklern des Situational Leadership-Ansatzes – auch situatives Führen genannt: Sie postulierten: Führungskräfte müssen abhängig von der jeweiligen Situation und vom jeweiligen Gegenüber ein unterschiedliches, teils sogar konträr wirkendes Führungsverhalten zeigen. Mal müssen sie Mitarbeiter loben, mal tadeln. Mal sollten sie diese beim Erfüllen einer Aufgabe aktiv unterstützen, mal sich bewusst zurücknehmen.
Soweit, so gut! Doch leider wurde im betrieblichen Alltag oft der Entwicklungsgedanke vergessen, der mit dem situativen Führen verbunden ist. Eine Ursache hierfür war und ist: Manch Führungskraft fühlt sich von den vielen Aufgaben, die auf ihren Schultern lasten, überfordert. Deshalb fokussiert sich ihre Aufmerksamkeit auf die dringliche Tagesarbeit.
Kompetente Mitarbeiter entlasten Führungskräfte
Doch damit beginnt ein Teufelskreislauf. Weil die Führungskräfte ihre Mitarbeiter nicht fördern, können sie ihnen auch nicht mit der Zeit mehr und komplexere Aufgaben übertragen. Deshalb steigt in der von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten VUKA-Welt sukzessiv die Belastung der Führungskräfte – auch weil diese selbst und ihre Bereiche permanent vor neuen Herausforderungen stehen.
Um diesen Herr zu werden, streben aktuell immer mehr Unternehmen danach, ihre sogenannte Agilität zu steigern, um beispielweise ihre Reaktionsgeschwindigkeit auf Marktveränderungen zu erhöhen. Und von ihren Führungskräften fordern sie zunehmend, dass sie ihre Mitarbeiter „agil führen“. Dabei wird leider oft übersehen, dass ein solcher Führungsstil, der weitgehend auf die Selbstorganisation und Eigenverantwortung der Mitarbeiter setzt, ein gewissen Reifegrad der Mitarbeiter, aber auch Führungskräfte voraussetzt.
Die vier Stufen der Mitarbeiterentwicklung
Dem Situational Leadership-Ansatz zufolge lassen sich in der Entwicklung von Mitarbeitern, abhängig von deren Kompetenz und Engagement, vier Stufen unterscheiden. Diese seien kurz skizziert.
Wenn Mitarbeiter eine neue Aufgabe übernehmen, dann haben sie hiermit in der Regel noch kaum Erfahrung. Ihre Kompetenz ist also gering. Trotzdem gehen sie die Aufgabe mit Begeisterung und einem großen (Lern-)Eifer an (Entwicklungsstufe 1). Doch meist stellt sich bald eine gewisse Desillusionierung ein – zum Beispiel, weil sich die neue Aufgabe als schwieriger als gedacht erweist. Die hieraus resultierende Ernüchterung verursacht nicht selten ein Nachlassen des Engagements (Entwicklungsstufe 2). Trotzdem arbeiten die Mitarbeiter weiter und entwickeln so allmählich ein Gespür dafür, wie sie die Aufgabe meistern können. Sie sind aber noch unsicher und fragen sich: „Kann ich das wirklich alleine?“. So schwankend wie ihre Gefühle ist dann ihr Engagement (Entwicklungsstufe 3). Je häufiger die Mitarbeiter die Aufgabe aber mit Erfolg gelöst haben, umso größer wird ihre Sicherheit. Das heißt, sie entwickeln sich allmählich zu „Profis“, die die Aufgabe routiniert lösen und auch nicht panisch reagieren, wenn bei deren Lösung mal ein etwas anderes Vorgehen praktiziert werden muss (Entwicklungsstufe 4).
Bei den vier Entwicklungsstufen gilt es zu beachten: Sie beziehen sich stets nur auf eine Aufgabe. Das heißt, bei jedem Mitarbeiter sind die Kompetenz und das Engagement von Aufgabe zu Aufgabe verschieden. Also ist auch ein unterschiedliches Führungsverhalten angesagt.
Das Führungsverhalten der Entwicklung anpassen
Beim Führungsverhalten lassen sich dem Situational Leadership-Ansatz zufolge zwei Grundkategorien unterscheiden: ein dirigierendes und ein unterstützendes Verhalten.
- Ein dirigierendes Verhalten konzentriert sich darauf, wie eine Aufgabe zu erfüllen ist. Bei ihm sagt und zeigt die Führungskraft ihrem Mitarbeiter, wann und wie etwas getan werden muss, und gibt ihm ein Feedback über das Ergebnis. Das Ziel eines dirigierenden Verhaltens ist es, die Kompetenz anderer Menschen zu entwickeln.
- Ein unterstützendes Verhalten hingegen zielt darauf ab, die Eigeninitiative von Menschen zu fördern und ihre Einstellung bezüglich einer Aufgabe zu beeinflussen. Beispiele für ein unterstützendes Verhalten sind Loben, Zuhören und Ermutigen; außerdem das Einbeziehen von Menschen in das Lösen eines Problems.
Aus den beiden Grundkategorien lassen sich abhängig von deren Ausprägung und Kombination vier Führungsstile ableiten.
Führungsstil 1 – Anleiten: Dieser Führungsstil zeichnet sich durch ein stark dirigierendes und wenig unterstützendes Verhalten aus. Der Vorgesetzte gibt dem Mitarbeiter detaillierte Anweisungen, wie und mit welchen Zielen eine Aufgabe zu erfüllen ist, und überwacht eng das Vorgehen und die Leistung.
Führungsstil 2 – Coachen: Dieser Führungsstil ist durch ein stark dirigierendes und unterstützendes Verhalten charakterisiert. Der Vorgesetzte erläutert Entscheidungen, erfragt Vorschläge, lobt Vorgehensweisen (selbst wenn diese nur teilweise richtig sind) und gibt genaue Anleitungen. Vorschläge zum Vorgehen vom Mitarbeiter sind zwar erwünscht, die Entscheidungen trifft aber weiterhin die Führungskraft.
Führungsstil 3 – Unterstützen: Dieser Führungsstil ist gekennzeichnet durch ein stark unterstützendes und wenig dirigierendes Verhalten. Er zielt primär auf ein Stärken oder Bewahren des Engagements des Mitarbeiters ab. Führungskräfte, die diesen Stil praktizieren, trainieren, hören zu und ermutigen, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen und Problemlösungen zu entwerfen.
Führungsstil 4 – Delegieren: Dieser Führungsstil ist durch ein wenig unterstützendes und dirigierendes Verhalten geprägt. Der Vorgesetzte lässt den Mitarbeiter eigenständig handeln und sorgt für die nötigen Ressourcen. Dabei gilt es jedoch zu beachten: Der Vorgesetzte bestimmt weiterhin (im Idealfall, im Dialog mit dem Mitarbeiter) welche Ergebnisse gewünscht sind, und stellt sicher, dass Zielklarheit besteht. Er beobachtet und überwacht zudem die Leistung.
Agile Führung setzt gewissen Reifegrad voraus
Wenn Führungskräfte die vier Führungsstile und die Entwicklungsstufe ihrer Mitarbeiter kennen, können sie entscheiden, welches Führungsverhalten bei einer Aufgabe angemessen ist. Ist die Aufgabe für den Mitarbeiter neu, also sein Engagement hoch, jedoch seine Kompetenz noch niedrig, dann ist ein Anleiten angesagt. Bei einem Mitarbeiter hingegen, der bereits erste Erfahrungen gesammelt hat, dessen Engagement jedoch aufgrund von Rückschlägen erlahmt ist, ist ein Coachen angesagt. Hat ein Mitarbeiter schon eine gewisse Kompetenz entwickelt, scheut sich aber, diese anzuwenden, dann ist primär eine mentale Unterstützung nötig. Und hat ein Mitarbeiter bereits eine recht große Routine und stimmt sein Engagement, dann kann die Führungskraft die Aufgabe an den Mitarbeiter delegieren.
Und bei welchen Mitarbeitern ist nun das sogenannte agile Führen möglich, das weitgehend auf eine Selbstorganisation der Mitarbeiter setzt? Ohne Vorbehalte eigentlich nur
- bei den Mitarbeitern, die bereits eine hohe Routine beim Bewältigen ihrer Aufgaben haben und bei denen das Engagement stimmt, und
- bei den Mitarbeitern, die zum Beispiel in Teamstrukturen eingebunden sind, die gewisse bei ihnen noch vorhandene fachliche und motivationale Defizite unterstützend ausgleichen
Das eigene Führungsverhalten reflektieren
Um im Betriebsalltag ihre Mitarbeiter effektiv zu führen, müssen Führungskräfte die vier Führungsstile nicht nur kennen, sie müssen dies auch praktizieren (können). Sonst entwickelt sich die Kompetenz ihrer Mitarbeiter nicht und ihr Engagement sinkt.
Hierfür ein Beispiel: Angenommen ein junger ITler soll erstmals eigenständig ein Projekt planen und durchführen. Er befindet sich also bezogen auf diese Aufgabe auf der Entwicklungsstufe 1. Dann benötigt er von seinem Vorgesetzten (oder einem erfahrenen Kollegen) eine fachliche Unterstützung, wie er dabei vorgehen sollte. Er muss zudem ermutigt werden: „Das schaffen Sie mit meiner Unterstützung, selbst wenn …“. Anders ist dies, wenn der Mitarbeiter schon mehrere Projekte geplant und gemanagt hat. Gibt sein Vorgesetzter ihm dann immer noch jeden Arbeitsschritt vor und schaut ihm permanent über die Schulter, dann lähmt dies die fachliche Weiterentwicklung des Mitarbeiters und seine Motivation sinkt. Denn er denkt zu Recht: „Mein Chef betrachtet mich als blutigen Anfänger. Er würdigt meine Können nicht.“
Ähnlich demotivierend oder wenig kompetenzfördernd kann es jedoch sein, wenn der Vorgesetzte seinem Mitarbeiter zu wenig Unterstützung bietet. Auch hierfür ein Beispiel: Angenommen ein ITler hat schon mehrere Projekte erfolgreich gemanagt. Er befindet sich also auf Entwicklungsstufe 3. Bisher waren die Projekte jedoch nur Innovations-Projekte – also Projekte, die zum Beispiel auf die Weiterentwicklung der technischen Infrastruktur in einem Bereich abzielten Nun soll er aber erstmals ein Change-Projekt planen und managen, das auf eine bereichsübergreifende, tiefgreifende Veränderung auch auf der kulturellen Ebene abzielt. Das verunsichert ihn, was er auch artikuliert. Wenn dann sein Chef zu ihm nur schulterklopfend sagt „Ach, das schaffen Sie schon“, dann fühlt sich der Mitarbeiter zu Recht nicht ernst genommen und im Stich gelassen. Das heißt: Mit hoher Wahrscheinlichkeit sinkt sein Engagement.
Die Führungsstile flexibel und zielorientiert handhaben
Daraus folgt: Führungskräfte müssen ihr Führungsverhalten im Betriebsalltag immer wieder neu bzw. flexibel und agil der Entwicklung des jeweiligen Mitarbeiters sowie der jeweiligen Situation anpassen. Konkret bedeutet dies: Selbst wenn sie einen Mitarbeiter beim Erfüllen einer Aufgabe agil führten, kann es durchaus nötig sein, dass sie, wenn dieser eine andere Aufgabe wahrnimmt, einen scheinbar konträren Führungsstil, also ein stark dirigistisches und unterstützendes Führungsverhalten zeigen – auch um den Mitarbeiter in seiner Entwicklung zu fördern.
Entsprechend hoch müssen die Sensibilität für die Ist-Situation sowie die Verhaltensflexibilität der Führungskräfte sein. Und hierfür gilt es sie zu qualifizieren – ähnlich wie sie dies selbst bezogen auf ihre Mitarbeiter tun sollten.
Über den Autor:
Hans-Peter Machwürth ist Geschäftsführer der international agierenden Unternehmensberatung Machwürth Team International (MTI Consultancy), Visselhövede (D), für die weltweit circa 450 Berater, Trainer, Coaches sowie Projektmanager arbeiten.