Das kollektive und individuelle Lernen verzahnen

Das kollektive und individuelle Lernen verzahnen
francescoridolfi.com
Lesedauer: 4 Minuten

Die IT-Technik, wozu auch die Künstliche Intelligenz (KI) zählt, ermöglicht es Unternehmen, ganz neue Lernarchitekturen und -landschaften zu schmieden. Das ist auch nötig, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Lernen ist ein individueller Prozess. Diese Überzeugung prägte lange Zeit unser Denken. Entsprechend stark wird das individuelle Lernen teilweise noch heute nicht nur in den (Hoch-)Schulen, sondern auch Betrieben stimuliert. Erst in den letzten Jahrzehnten setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass das Lernen – also der kognitive Prozess, in dem sich Menschen neues Wissen aneignen und in ihr vorhandenes integrieren – kein Prozess ist, der sich nur in ihren Köpfen vollzieht. Er vollzieht sich vielmehr auch

  • in der Interaktion mit der Umgebung, in der die Lern- und Sozialisationsprozesse stattfinden,
  • in der Kommunikation und Auseinandersetzung mit anderen Personen und
  • unter Nutzung von Tools, die dem Erwerb und Austausch von Wissen und Erfahrung dienen.

Ein Vordenker in diesem Bereich war der 1980 verstorbene Schweizer Biologe und Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piaget. Unter anderem auf seinen Vorarbeiten baut auch die in den 1990er Jahren von dem US-amerikanischen Anthropologen Edwin Hutchins, entwickelte Distributed Cognition Theory bzw. Theorie der verteilten Kognition auf. Ihre Grundannahme lautet: Das zum Lösen einer Aufgabe nötige Wissen (Cognition) muss nicht im Kopf einer Person vorhanden sein. Es kann auch auf mehrere Personen verteilt und sogar medial, also in Gegenständen, gespeichert sein.

Das Lernen findet in einem (sozialen) Kontext statt.

Aus heutiger Sicht ist dieses Denken nicht neu. Schließlich ist in den Betrieben inzwischen zum Beispiel die Teamarbeit gängige Praxis. Sie geht davon aus, dass

  • wenn mehrere Personen gemeinsam eine Aufgabe erfüllen und dabei ihr Wissen und ihre Erfahrung teilen, oft bessere Arbeitsergebnisse erzielt werden, als wenn eine Person dies allein tut, und
  • sich in dieser Zusammenarbeit auch individuelle und kollektive Lernprozesse vollziehen, sodass außer der Kompetenz der Teammitglieder auch die der Organisation steigt.

Noch kaum berücksichtigt wurde dieses Wissen jedoch

in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. In ihr wurde das Lernen noch weitgehend als ein individueller Prozess verstanden. Eine entsprechend geringe Bedeutung wurde der Theorie der verteilten Kognition beigemessen. Ein Tatbestand, der aufgrund des wachsenden Change- und somit Lernbedarfs in den Unternehmen zunehmend als Manko erkannt wird, weshalb immer mehr HR-Verantwortliche fordern: In unserer Organisation muss sich eine neue Lernkultur entwickeln, die außer dem individuellen auch das kollektive Lernen stimuliert und hierfür müssen die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Bedeutung der Lernmedien und -infrastruktur wird oft unterschätzt

Eine noch geringere Bedeutung wurde in der Vergangenheit der Tatsache beigemessen, dass der Theorie der verteilten Kognition zufolge das zum Lösen einer Aufgabe nötige Know-how auch medial gespeichert sein kann – und dies, obwohl auch in ihr bereits solche Utensilien wie

  • Karteikarten und Schautafeln,
  • Lehr- und Handbücher,
  • Videos und CBT-Programme
  • Lern-PCs und vereinzelt sogar Lernplattformen

zum Lernen genutzt wurden. Ihre Bedeutung wird von den Unternehmen erst so recht erkannt, seit diese sich aufgrund des Arbeitskräftemangels und Generationswechsels in ihrer Belegschaft zunehmend mit dem Thema Wissensmanagement befassen; also mit der Frage, wie kann das in den Köpfen unserer Mitarbeiter vorhandene Fach- und Erfahrungswissen so gespeichert werden, dass dieses auch andere Personen sich aneignen und nutzen können, und zunehmend damit begannen, Wissensdatenbanken aufzubauen.

Das Thema „verteilte Kognition“ gewinnt durch KI an Relevanz

Beschleunigt wird dieser Prozess außer durch die fortschreitende Digitalisierung seit zwei, drei Jahren dadurch, dass im Markt immer mehr KI-Systeme offeriert werden, die nicht nur gigantische Datenmengen verarbeiten können, sondern selbst auch lernende Systeme sind und mit den Menschen interagieren. Daraus erwuchs eine Reihe neuer Fragen wie zum Beispiel:

  • Wie wird sich künftig die Zusammenarbeit Mensch-Maschine gestalten?
  • Welche Funktion können in diesem Prozess KI-Systeme übernehmen?
  • Inwieweit können sich die KI-Systeme und Menschen wechselseitig beim Lernen unterstützen?
  • Welche Lern- und Kommunikationskultur und -infrastruktur muss hierfür in den Unternehmen bestehen?

Hierdurch gewann auch die Theorie der verteilten Kognition bzw. „Distributed Cognition“ an Relevanz, weil sie erweitert das Verständnis erweitert,

  • wie Menschen denken, lernen und handeln und
  • wie wichtig hierbei der jeweilige Kontext ist, in dem diese Prozesse stattfinden.

Zwar gibt es auch kritische Stimmen bezüglich dieser Theorie. So zum Beispiel, dass ihre Definition von Kognition so weit gefasst sei, dass eine Unterscheidung zwischen individuellen und verteilten kognitiven Prozessen kaum noch möglich sei. Dies könnte aber auch eine Folge der zunehmenden digitalen Vernetzung sein.

Das Lernen in den Betrieben auf ein neues Fundament stellen

Ungeachtet dessen erfordern jedoch die Herausforderungen, vor denen die Unternehmen in der von rascher Veränderung geprägten VUKA-Welt stehen, und die Technologiesprünge, die sich im IT-Bereich, wozu auch die KI zählt, vollziehen, innovative Ansätze, um das Lernen so gestalten, dass es dem gewandelten betrieblichen Bedarf entspricht und „zukunftsfähig“ ist. Hierfür bietet die Theorie der verteilten Kognition den nötigen theoretischen Rahmen, indem sie das Verständnis von Kognition erweitert und die Bedeutung der sozialen Interaktionen, Werkzeuge und Umgebungen für den Lernprozess betont. Deshalb spielt sie in der Debatte über das künftige Lernen eine wachsende Rolle; auch, weil sie sozusagen das theoretische Fundament für Antworten auf die Frage liefert, wie die KI im betrieblichen (Aus- und Weiter-)Bildungsbereich genutzt werden kann und welche Rolle sie künftig im Leistungserbringungsprozess spielt.

Vorstellbar ist vieles. So zum Beispiel, dass die KI die Mitarbeitenden von Routineaufgaben entlastet, so dass diese mehr Zeit zum Entfalten ihrer kreativen und sozialen Fähigkeiten sowie zum Lernen haben; des Weiteren, dass sie Prozesse, Abläufe und sonstige Daten analysiert und für die einzelnen Mitarbeiter und Teams maßgeschneiderte Lernpfade entwirft. Außerdem können die digitalen Werkzeuge (gemäß dem Axiom, dass das Denken und Lernen meist in einem sozialen Kontext erfolgt), die Zusammenarbeit und Kommunikation in Lerngruppen verbessern. Zudem können KI-gestützte Anwendungen wie Chatbots und virtuelle Assistenten und Tutoren als persönliche Unterstützer im Lernprozess dienen. Dabei können diese Tools sowohl Hilfsmittel für die Lernenden als auch Lehrenden sein, also die den Lernprozess unterstützenden Personen wie Aus- und Weiterbildner, Trainer und Coachs.

Mit der Digitaltechnik neue Lernlandschaften und -kulturen kreieren

Exemplarisch seien hier einige Ansatzpunkte zum Neugestalten der Lernlandschaften und -kulturen in den Unternehmen mit Hilfe der IT-Technik und KI gemäß den Axiomen einer verteilten Kognition bzw. „Distributed Cognition“ genannt.

  • Gestaltung effektiver Lernumgebungen: Mit Hilfe solcher digitalen Tools wie interaktiven Whiteboards können dynamische Lernumgebungen geschaffen werden, die die Interaktion der Mitarbeiter sowie deren Wissens- und Erfahrungsaustausch stimulieren.
  • Förderung der Teamarbeit und des kollaborativen Lernens: Digitale Tools können auch das Peer-Tutoring stimulieren, bei dem die Mitarbeiter gemein Aufgaben lösen und hierbei voneinander lernen. Dies fördert das (wechselseitige) Verständnis und den Beziehungsaufbau.
  • Einsatz adaptiver Lerntechnologien: KI-gestützte Lernplattformen können individuelle Lernpfade für die Mitarbeiter und Teams definieren und ihnen ein Feedback über ihre Lernfortschritte geben. Zudem können Chatbots und virtuelle Tutoren rund um die Uhr Fragen der Lernenden beantworten und ihnen beim Lösen ihrer Aufgaben assistieren.
  • Integration kognitiver Hilfsmittel: Visuelle, digitale Hilfsmittel wie Mindmaps und Concept Maps helfen den Lernenden beim Strukturieren, Verarbeiten und Speichern komplexer Informationen und fördern so den Kompetenzaufbau. Entsprechendes gilt für solche Lern-Apps wie Anki und Quizlet. Sie fördern durch ein wiederholtes Üben das langfristige Speichern von Informationen.
  • Förderung der Reflexion und Metakognition: KI-Tools können die Mitarbeiter dazu animieren, zum Beispiel in strukturierten Feedback-Sitzungen oder mit Selbstbewertungsinstrumenten, ihre Lernprozesse zu reflektieren, um ihre Lernstrategien zu verbessern. Dies ist für den Kompetenzauf- und -ausbau von zentraler Bedeutung.

Fazit

Wie die Lernlandschaften künftig gestaltet sein werden, ist heute noch ungewiss – auch weil aktuell nahezu täglich neue KI-Tools im Markt angeboten werden, deren Einsatzmöglichkeiten in der betrieblichen Bildung noch kaum erprobt sind. Klar ist aber bereits: Wenn sich die Verantwortlichen in den Unternehmen beim Gestalten der Lerninfrastruktur in ihrer Organisation an den Prinzipien der geteilten Kognition orientieren, wird sich in ihnen eine neue integrative Herangehensweise an die Themen Personalentwicklung und betriebliche Aus- und Weiterbildung etablieren, die das individuelle und kollektive Lernen verzahnt. Dies wird außer zu besseren Lernergebnissen, auch zu einer stärkeren Einbindung und somit höheren Motivation der Mitarbeitenden führen.

Autorin: Sabine Prohaska

 
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